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Kämpfende Wissenschaftler zwischen Deutschland und Argentinien: Die Geschichte Münchner Geographen während und nach der Zeit des Nationalsozialismus

Gerhard Rainer & Simon Dudek

Der Name Karl Haushofer stand lange Zeit synonym für die Entwicklung der Geographie an der Universität München in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Frage der Verstrickungen der Münchner Geographen mit dem Nationalsozialismus sowie von Kontinuitäten und Brüchen nach dem Krieg sind wir nun in einem disziplinhistorischen Forschungsprojekt nachgegangen.

Prominent zieren die Portraits der deutschen Geographen Friedrich Machatschek (1876–1957), Gustav Fochler-Hauke (1906–1996) und Willi Czajka (1898–1987) den Eingangsbereich des „Instituto de Estudios Geográficos Guillermo Rohmeder“ an der Universidad Nacional de Tucumán. Wer waren diese Geographen und wie kommt es, dass zirka 70 Jahre nach deren Wirken in Argentinien immer noch ihre Portraits dort hängen, ja sogar das Institut nach einem der vier deutschen Geographen – Guillermo (Wilhelm) Rohmeder (1902-1952) – benannt wurde? Diese Fragen waren der Ausgangspunkt für unser Forschungsprojekt, das uns schnell „zurück“ nach Deutschland – und zwar an die LMU München, an der drei der vier Geographen studiert und/oder gelehrt hatten – brachte. Über eine detaillierte Aufarbeitung der Publikationen der Geographen sowie Archivbesuche an der Universidad Nacional de Tucumán, am Archiv der Geographie des IfL, dem Universitätsarchiv der LMU München, dem Staatsarchiv und Hauptstaatsarchiv München sowie dem Bundesarchiv in Berlin rekonstruierten wir deren Leben und Wirken bis in die 1950er Jahre. Das Resultat sind drei in den letzten Monaten erschienene Publikationen, die unterschiedliche disziplinhistorische Schwerpunkte setzen.

Obwohl (oder vielleicht gerade weil) mit Karl Haushofer der wohl bekannteste deutschsprachige Geograph und Geopolitiker der 1920er bis 1940er an der LMU in München lehrte und Haushofers‘ Biographie und Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus intensiv untersucht wurden, stellte die disziplinhistorische Aufarbeitung der Ausrichtung des Instituts für Geographie bisher eine Leerstelle dar. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir in „Beyond Haushoferism: geography, geopolitics and National Socialist rule at Munich’s Ludwig Maximilian University“ die Karrieren dreier weiterer wichtiger Persönlichkeiten der Münchner Geographie: Erich von Drygalski, Fritz Machatschek und Gustav Fochler-Hauke. Mit Haushoferismus spielen wir auf Ian Kershaws Begriff des Hitlerismus und die Verengung des Nationalsozialismus auf einzelne, dämonische Figuren an, die in der Person Haushofers in der frühen Nachkriegsgeographie ihre Entsprechung fand. Wir zeigen, dass sich die Gleichung „National Socialist influence = geopolitics = Karl Haushofer“ (Kost 1998: 298), auch für das Münchner Institut auf keinen Fall halten lässt. Friedrich Machatschek beispielsweise wurde 1934 als Professor in Wien aufgrund seiner Begeisterung für den Nationalsozialismus und dessen Heim-ins-Reich-Politik entlassen. Nur ein Jahr später, 1935, wurde er – unter tatkräftiger Unterstützung seines Vorgängers Erich von Drygalski – auf den damals einzigen Lehrstuhl am Münchner Institut berufen. Sein Wirken in München, auch als Leiter des Südostinstituts, stellte er immer stärker in die Dienste der nationalsozialistischen Gegnerforschung. Fochler-Hauke wiederum war als Generalsekretär der Deutschen Akademie maßgeblich für deren Arisierung und Restrukturierung nach dem Führerprinzip verantwortlich und publizierte während des 2.WK als Freiwilliger einer Propagandaeinheit eine große Zahl an kriegsverherrlichenden Artikeln in deutschen Zeitungen. Während die Forschung bisher ausschließlich den Blick auf Haushofer gelenkt hat, konnten wir zeigen, dass zentrale Persönlichkeiten der Münchner Geographie letztlich zu Kämpfenden Wissenschaftlern wurden, die das expansionistische nationalsozialistische Projekt stützten.

Im Artikel „Von Kontinuitäten und fehlenden Brüchen: Die Entnazifizierung der Geographen an der Universität München“ untersuchen wir die Entnazifizierungsverfahren – sowohl individuell als auch im Rahmen der universitären Entnazifizierung. Ausgehend von Lutz Niethammers These der Entnazifizierungsverfahren als Mitläuferfabrik fragt der Beitrag am Beispiel der Münchner Geographen nach den rechtlichen Konsequenzen nationalsozialistischer Betätigung für die akademischen Eliten. Während die Entnazifizierung des Universitätspersonals durch die Militärregierung zunächst dazu führte, dass nahezu das gesamte geographische Lehrpersonal seine Anstellungen verlor, verlief die individuelle Entnazifizierung durch die Spruchkammerverfahren ungleich milder. Generell wurden die Forscher – wo die Verfahren nicht aufgrund der Weihnachtsamnestie 1947 eingestellt wurden (Fochler-Hauke, Schäfer) oder sie wegen Selbstmord nicht mehr belangt werden konnten (Haushofer) – als Mitläufer eingestuft. Neben der von Niethammer analysierten strukturellen Milde der Spruchkammern konnten wir herausarbeiten, dass die Geographen ihre Angaben schönten (etwa verschwieg Erich von Drygalski seine Fördermitgliedschaft in der SS) oder dass ehemalige Promovend*innen und Student*innen wohlwollende Aussagen in das Verfahren einbrachten, wie das Beispiel Fritz Machatscheks zeigte. Erfolge der Entnazifizierung waren dabei ohnehin nur von kurzer Dauer: Mitte der 1950er arbeitete das wissenschaftliche Personal der Vorkriegszeit wieder am Institut oder war emeritiert. Mittelfristig produzierten die Entnazifizierungsverfahren in der Münchner Geographie also Kontinuitäten und keine Brüche mit der Zeit des Nationalsozialismus.

Ein dritter Beitrag schließlich folgt Wilhelm Rohmeder, der bereits 1940 auf eine Professur an der Universidad Nacional de Tucumán berufen wurde, sowie Gustav Fochler-Hauke, Fritz Machatschek und Willi Czajka, die 1949 ihre Professuren antraten, nach Argentinien. Ausgehend von den aktuellen Debatten um eine globale anglophone Hegemonie in der Geographie und um nationale Theoriebildung innerhalb des Faches untersuchen wir in dem Aufsatz die De- und Rekontextualisierung geographischen Wissens. Der Artikel „Globalizing Geography before Anglophone hegemony: (buried) theories, (non-)traveling concepts, and „cosmopolitan geographers“ in San Miguel de Tucumán (Argentina)” ist in der Geographica Helvetica erschienen, die sich in den letzten Jahren als eine Zeitschrift positioniert hat, die als „meeting ground“ für unterschiedliche geographische Traditionen und Sprachen fungieren will. Die deutschen Geographen bauten in Tucumán nicht nur den ersten eigenständigen Geographiestudiengang Argentiniens auf, sondern brachten auch die deutschsprachige Länder- und Landschaftskunde – allerdings ohne die rassistischen und antisemitischen Argumentationsmuster, die teilweise in den deutschsprachigen Publikationen bis Ende des 2.WK zu lesen waren – über den Atlantik mit und machten diese dort für die geographischen Debatten in Argentinien anschlussfähig. Während ihre Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus vor Ort nicht bekannt sind, wurden die vier Geographen für ihre Rolle als kosmopolitische Brückenschläger in Argentinien vielfach geehrt. Aufbauend auf unserer Untersuchung argumentieren wir, dass internationale akademische Mobilität und die damit verbundene De- und Rekontextualisierung geographischen Wissens – meist (implizit) als progressiv angesehen – immer im jeweiligen Kontext und aus normativer Perspektive vorsichtiger beurteilt werden sollte.

Wie immer stehen am Ende eines Forschungsprojektes mehr weitergehende offene als beantwortete Fragen. Die Aufarbeitung der Kontinuitäten oder Brüche nach der Zeit des Nationalsozialismus ist an vielen Standorten bisher kaum bis gar nicht geleistet. Gleiches trifft auch auf geographische Subdisziplinen zu – wie beispielsweise die Kolonialgeographie, die in der Zeit des Nationalsozialismus einen (zweiten) Boom erlebte. Auch die Emigration deutscher Wissenschaftler nach Argentinien über die Geographie hinaus – in Tucumán waren Anfang der 1950er Jahre beispielsweise dutzende deutsche Professoren beschäftigt, die teilweise hochrangige Positionen während der Zeit des Nationalsozialismus bekleideten – ist bisher kaum erforscht.

Kost, K. (1998): Anti-Semitism in German geography 1900-1945. GeoJournal 46: 285–291.

Rainer, Gerhard; Dudek, Simon (2022): Beyond Haushoferism: geography, geopolitics and National Socialist rule at Munich’s Ludwig Maximilian University. Geopolitics. DOI: 10.1080/14650045.2022.2094773.

Dudek, Simon; Rainer, Gerhard (2022): Von Kontinutitäten und fehlenden Brüchen. Die Entnazifizierung der Geographen an der Universität München. Berichte Geographie und Landeskunde 95 (2): 117-139. DOI: 10.25162/bgl-2022-0006.

Rainer, Gerhard; Dudek, Simon (2022): Globalizing Geography before Anglophone hegemony: (buried) theories, (non)traveling concepts, and “cosmopolitan geographers” in San Miguel de Tucumán (Argentina). Geographica Helvetica. 77 (3): 297-311. DOI: 10.5194/gh-77-297-2022.

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