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Bericht der Arbeitsgruppe „Spezifika der Migrationsforschung in ostdeutschen Städten“

Die Formierung der offenen Arbeitsgruppe „Spezifika der Migrationsforschung in ostdeutschen Städten“ und ihre Veranstaltungsformate:

Unter dem Titel „über Forschen sprechen“ fand am Montag, den 07.02.2022, ein Online-Workshop[1] der sich neu formierten Arbeitsgruppe „Spezifika der Migrationsforschung in ostdeutschen Städten“ statt. Ziel war ein vertiefter Austausch zu aktuellen Projekten sowie zu empirischen und konzeptionellen Herausforderungen der Migrationsforschung in ostdeutschen Kontexten. Dieses Anliegen ergab sich insbesondere aus der Frage, inwieweit die regionalspezifischen Konstellationen, Diskurse und Praktiken neue oder andere Forschungszugriffe erforderlich machen. So zeichnen die häufig wesentlich geringere Repräsentanz von Migrant:innen in ostdeutschen Städten, die ganz eigene Geschichte von Migration in der DDR und den ostdeutschen Bundesländern (Vertragsarbeiter:innen in der DDR, humanitäre Migration/Flucht, kaum Arbeitsmigration nach 1990) verbunden mit den langanhaltenden Folgen der Transformation (wie Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Umbau öffentlicher Institutionen, Zusammenbruch von Kultur und Zivilgesellschaft) sowie deutlich hervortretende gesellschaftliche Spaltungsprozesse, Rassismus und Rechtsextremismus ein Bild, das deutliche Unterschiede zur Situation in westdeutschen Kommunen aufzuweisen scheint. Ein genauerer empirischer Blick lässt jedoch auch heterogene und differenzierte Realitäten erkennen: Die Herausbildung von „Ankunftsquartieren“ mit hohen Migrant:innenanteilen, ist in Städten im Osten wie im Westen Deutschlands zu beobachten, ebenso wie zivilgesellschaftliche Aktivitäten für und gegen Zuwanderung und Vielfalt, proaktive und passive Verwaltungen sowie diversitätsoffene bzw. migrationskritische politische Klimate. Besonders hinsichtlich der aktuellen Debatten in der kritischen Migrationsforschung müssen sich Forschende diesbezüglich nicht nur mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sie mit der Konzeptualisierung, Durchführung und Berichterstattung ihrer Forschung Konstrukte über Migrant:innen und über „die Migration“ reproduzieren, sondern auch inwieweit sie durch ihre Zugriffe Stereotypisierungen über „den Osten“ abbilden und damit zu entsprechenden „Validierungen“ beitragen. Der Workshop „Über Forschen sprechen“ sollte somit eine Kommunikationsplattform bieten, um über diese Fragen ins Gespräch zu kommen. Aus den zahlreichen eingesandten Impulsen und Interessensbekundungen der beteiligten Wissenschaftler:innen wurden thematische Cluster generiert, die in vier Panels diskutiert wurden.

Das erste Panel des Workshops war methodisch ausgerichtet: Unter dem Titel „Über empirisches Arbeiten sprechen: Positionalität, Feldzugänge, Betroffenenperspektive“ wurden methodologische Fragen nach der empirischen Umsetzung von Forschungsdesigns und dem Handeln im Forschungsalltag diskutiert. Fragen nach der Positionalität als Forschende:r waren hier ebenso wichtig wie der Austausch über Feldzugänge, das Führen von Interviews z.B. mit „Migrationskritiker:innen“ oder Personen mit extremen Meinungen sowie die Konzeption von biographischen Interviews. Stark diskutiert wurde beispielsweise die Frage nach der eigenen Positionalität und wie diese im Feld wahrgenommen, verhandelt oder verteidigt werden muss, und welche Konsequenzen dies für den Forschungsprozess hat. Dabei spielt nicht nur die eigene west- oder ostdeutsche oder anderweitige Herkunft von Forschenden eine Rolle, sondern auch die politische Positionierung von Forschenden, die im Forschungskontext gerade bei Themen wie Migration oder Rechtsextremismus von Gesprächspartner:innen eingefordert wird. Viele Forschende teilten die Erfahrung, sich für bestimmte Forschungszugänge oder Interpretationsansätze und -ergebnisse rechtfertigen zu müssen, z.B. in Bezug auf Forschungsthemen, die am Erhebungsstandort oder bei den ausgewählten Gesprächspartner:innen keine Priorität haben. Diskutiert wurde auch die Frage, wie mit Extremwerten bzw. Extremmeinungen umgegangen werden sollte, und wie im Gegenzug eher unscheinbare Positionen sichtbar gemacht werden können und müssen. Einig waren sich die Forschenden hinsichtlich der Wichtigkeit, Forschungsergebnisse nicht „glattzuziehen“, sondern „scharfe Kanten“ zu belassen.

Unter dem Titel „Sind ostdeutsche Ankunftsquartiere anders?“ standen in Panel 2 Spezifika sozialräumlicher Strukturen von Nachbarschaften, die durch Zuzug geprägt sind, Besonderheiten von Ankunftsprozessen und lokale Integrationsdiskurse im Fokus. Nachdem Ende der 1990er Jahre in vielen Quartieren selektive Abwanderungen und Bevölkerungsverluste als stadtentwicklungspolitische Herausforderungen im Vordergrund standen, nehmen nun die Großwohnsiedlungen zunehmend eine wichtige Rolle als Ankunftsquartiere im gegenwärtigen Pluralisierungsprozess ostdeutscher Großstädte ein. Vor diesem Hintergrund wurde unter anderem die Frage diskutiert, inwieweit sich in den spezifischen Umgebungen peripherer Großwohnsiedlungen, die sich seit der sog. „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 als wichtige Orte der Ankunft herausgebildet haben, gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse neuformieren. Wichtig erschien den Diskutant:innen, dass das Label „Ankunftsquartier“ nicht zu einer neuen Homogenisierung bzw. zur Stigmatisierung eines Stadtteils führen darf, da dieser eigentlich positiv konnotierte Begriff häufig negativ re-interpretiert wird. Ankunftsinfrastrukturen und Ankunftskonstellationen, die sich von Quartiersbegriffen lösen, wurden als Alternativkonzepte in die Debatte eingebracht. Hervorgehoben wurde darüber hinaus die Bedeutung historischer Faktoren und lokaler Wohnungsmarktstrukturen: So werden die Großwohnsiedlungen weniger durch migrantische Netzwerke, sondern vielmehr durch die begrenzten kommunalen Vergabemöglichkeiten von Wohnraum zu Quartieren der Ankunft – Ausnahmen wie Halle-Neustadt bestätigen die Regel. Empirische Projekterfahrungen verweisen darüber hinaus auf die Bedeutung von zum Teil restriktiven und diskriminierenden Praktiken von Wohnungsmarktakteur:innen im Umgang mit der Zuwanderung aus dem Ausland. Die Diversität der Herkünfte der Bewohner:innen betreffend, erweisen sich die Großwohnsiedlungen noch als relativ junge Ankunftsräume im Prozess zunehmender Pluralisierung.

In Panel 3 standen Diskussionen um die Begriffe Rechtsextremismus, Gesellschaftlicher Zusammenhalt und ostdeutsche Zivilgesellschaft im Zentrum. Ostdeutschland wurde im öffentlichen Diskurs seit den 1990er Jahren im Kontext rechtsextremer Angriffe und Morde, Wahlergebnisse und Subkulturen verhandelt. Dabei scheint im Osten ein Dreiklang aus eigener De-thematisierung, äußerer Stigmatisierung und der Suche nach effektiven Strategien im Kampf gegen Rechts und für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu existieren. Dieser Dreiklang wurde – auch vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Frage nach dem „Besonderen“ des „Ostens“ und der Gefahr von Essentialisierungen – diskutiert. Als eine weitere Besonderheit wurde darauf hingewiesen, dass Forschungsprojekte, die sich mit Migration und der postmigrantischen Gesellschaft in Ostdeutschland auseinandersetzen, oft auch einen Fokus auf Rassismus und Rechtsextremismus im Osten legen, während Forschungsprojekte, die sich mit rechtextremen Strukturen auseinandersetzen, auch „Migration“ mitthematisieren. Hier wäre eine stärkere Verzahnung von Vorteil, damit die jeweiligen Expertisen zusammengetragen werden können. Es wurden zudem forschungsethische Fragen gestellt, die sich vor allem darauf bezogen, wie qualitative Interviews und ethnografische Beobachtungen mit rechtextremen Akteur:innen geführt werden können und sollten. Gleichzeitig ist Datenschutz im Umgang mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und besonders antirassistischen Gruppen sehr wichtig, weil die Teilnahme an Forschungsprojekten und die Veröffentlichung der Ergebnisse potentiell Gefahr für die Akteur:innen vor Ort bedeuten könnten. Dies führte auch zu der Frage im Workshop, wie damit umgegangen werden kann, dass auf Grundlage von Datenerhebungen Bedrohungspotentiale für die Bewohner:innen in den jeweiligen Orten entstehen können und gleichzeitig die eigenen akademischen Karrieren mit den Daten weitergeführt werden. Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt waren die (Dis-)Kontinuitäten des Rechtextremismus in Ostdeutschland. Die rechtsextremen Strukturen und Subkulturen der DDR sind historisch aufgearbeitet worden und dokumentiert und sollten immer Berücksichtigung in aktueller Forschung finden. Hinzu kommt der Austausch zwischen den westdeutschen und ostdeutschen Neonazigruppen. Hier muss auch genau analysiert werden, welche Strukturen aus dem Westen „importiert“ wurden und welche nicht. Das sich lange im Osten haltende Narrativ, dass der Rechtsextremismus maßgeblich aus dem Westen importiert worden sei, ist widerlegt. Jedoch tun sich Gleichzeitigkeiten auf, denn aktuell lassen sich Migrationsbewegungen von westdeutschen Neonazis auf ostdeutsche (preiswerte) Grundstücke beobachten. Dies brachte das Panel wieder zurück zum Ausgangspunkt. Gerade beim Thema Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist die genaue Analyse von Ursache und Wirkung, Stigmatisierung und echter Besonderheit immer wieder oberstes Gebot.

In Panel 4 fand unter dem Titel „Wir und die anderen“ eine Auseinandersetzung um West-Ost- Vergleiche, Essentialisierungen und Stereotypisierungen statt. So wurde zum Beispiel die Frage diskutiert, wie empirische Bezüge zu Städten außerhalb Ostdeutschlands sinnvollerweise aussehen können, z.B. in Westdeutschland oder im europäischen Vergleich, die Stereotype über das „typisch Ostdeutsche“ in Frage stellen und Erklärungsansätze jenseits der DDR-Vergangenheit erlauben. Ausgangspunkt der Diskussionen war die These, dass die Analyse des Umgangs mit Migration und Diversität im ostdeutschen Kontext in der Regel aus einer in Deutschland eingeübten relationalen Perspektive erfolgt, in der „der Osten“ als Abweichung von einer westdeutschen „Norm“ konstruiert wird. Dieses dominante Ordnungsmuster lenkt den empirischen Blick auf Unterschiede und überdeckt kleinräumige Differenzierungen und Gemeinsamkeiten. Damit ist die Problematik verknüpft, dass die Unterschiede dann in stereotypisierender Weise essentialisiert werden. Hier wurde vor allem das Spannungsfeld benannt, dass Alltagsrassismus im ostdeutschen Kontext zwar in der Regel empirisch stärker nachweisbar ist, aber gleichzeitig die Herausforderung bewältigt werden muss, diesen Befund nicht undifferenziert zu reproduzieren. Wichtig erschien es den Teilnehmer:innen vielmehr, sich diesbezügliche Raumproduktionen immer wieder zu vergegenwärtigen, historische Kontexte zu beachten, Peripherieerfahrungen und interne Hierarchisierungen (z.B. innersächsische Debatten und Differenzierungen) zu analysieren. Zudem wurde die Frage nach dem Herstellungsprozess des „Ostdeutschen“ aufgeworfen und andiskutiert, was eine Perspektivenumkehr im Sinne einer „Critical Westness Studies“ an Erkenntnisgewinn bringen könnte. Das Panel zeichnete sich durch das generelle Hinterfragen dichotomer, eindimensionaler Vergleichskonstrukte aus, die den komplexen Forschungsrealitäten nicht gerecht würden. So impliziere auch die Dichotomie „Stadt-Land“ in ähnlicher Weise wie der „Ost-West-Gegensatz“ eine städtische Normalität in Bezug auf Migration/Integration, in der der ländliche Raum als Abweichung von der Norm gilt. Die Teilnehmer:innen formulierten unter anderem den Wunsch danach, in der Forschung andere Ordnungen zuzulassen und mehr Sensibilität für die Vielfalt anderer Ordnungen aufzubringen.

Ausblick

Vor dem Hintergrund der angeregten Debatten und dem wahrgenommenen Diskussionsbedarf plant die Arbeitsgruppe für das Jahr 2022 weitere Veranstaltungen: Ein Autor:innen-Workshop für ein Special Issue der Zeitschrift Berichte. Geographie und Landeskunde wird unter dem Titel „P(ost)migrantische Städte – Diskurse, Erinnerungspraktiken und Alltagserfahrungen“ am 15. Juni 2022 online stattfinden (Ansprechpartnerinnen/Heftmoderatorinnen: Karin Wiest (K_wiest@leibniz-ifl.de, Vera Denzer (denzer@uni-leipzig.de). Für Herbst 2022 ist ein Präsenzworkshop geplant, der die Diskussion von eigenen Beiträgen aus dem Forschungsfeld „Migration“/„Stadt“/„Ostdeutschland“ zum Ziel hat.

Kontakt:

Prof. Dr. Birgit Glorius, TU Chemnitz (birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de)

Dr. Daniel Kubiak, HU Berlin (daniel.kubiak@hu-berlin.de)

PD Dr. Anna-Lisa Müller, IMIS/IKG (anna-lisa.mueller@uni.osnabrueck.de)

Dr. Karin Wiest, Leibniz Institut für Länderkunde Leipzig (K_wiest@leibniz-ifl.de)

[1] Ein erster digitaler Workshop zur Thematik hat im September 2021 im Rahmen der DeZIM-Forschungsgemeinschaft stattgefunden.

 

Bericht (PDF)

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